„Nicht das Beginnen wird belohnt, sondern einzig und allein das Durchhalten“
(Katharina von Siena)
Neulich saß ich in der Wartehalle eines Flughafens und hatte Zeit, die Leute zu beobachten. Man bekommt einen guten Eindruck davon, wie die Menschen sich bewegen, was sie währenddessen tun und, vor allem, wie sie sich kleiden.
Ich habe längst aufgehört, mich darüber zu wundern, dass eine Jeans Risse haben muss bzw. dass ihr offensichtlich wesentliche Stoffteile ganz fehlen müssen, und zwar nicht nur im Sommer, sondern auch dann, wenn es kühler ist. Man muss die Menschen fast dafür bewundern, dass sie zugige Kleidung tragen, obwohl sie sich auch wärmende leisten könnten.
Früher war das (natürlich) anders. Wenn eine Jeans nicht mehr tragbar war, weil sie auseinanderfiel, dann wurde in eine neue investiert, und es dauerte viele Jahre, bis diese dann wieder ersetzt werden musste. So ändern sich die Zeiten.
Früher wurde man auch dezent darauf hingewiesen, wenn das Hemd oder die Bluse vorne noch im Hosenbund steckte, während der Rest darüber hing, denn entweder trug man das Hemd über oder eben in der Hose. Ich hatte bis vor kurzem auch diesen Drang, insbesondere Damen in meinem Umfeld auf diesen Umstand hinzuweisen, bis ich verstand, dass „man das jetzt so trägt“. Und plötzlich sehe ich überall Frauen, die ihre Blusen vorne in den Hosenbund stecken, so als hätten sie alle kollektiv bemerkt, dass eine vollständig über dem Hosenbund getragene Bluse die Bewegungsfreiheit der Arme und Hände beeinträchtigen würde.
Manche Männer werden sich jetzt über diesen Lemming-Effekt lustig machen, aber wir sollten auch vorsichtig sein, denn Apple hat im vergangenen Jahr mehr Uhren verkauft als die gesamte Schweizer Uhrenindustrie zusammen. Und ich könnte wetten, dass ein großer Teil davon in die Managementebenen von Unternehmen gegangen ist, und zwar an die Handgelenke der dort agierenden Top-Manager.
Denn genau so, wie eine in die Hose gesteckte Bluse das Gefühl vermittelt, hip zu sein, vermittelt die Apple-Watch den Eindruck, mit der Zeit zu gehen, denn da ohnehin Jedermann mit einem Smartphone unterwegs ist, kann die Apple-Watch keinen objektiven Zusatznutzen liefern, es sei denn, man ist Arzt in Bereitschaft und auf Sekunden-gleiche Reaktionszeit angewiesen.
Es ist schon wahr: In diesen Zeiten des Neo-Liberalismus ist jeder von uns seine eigene Bühne, jeder strebt nach individueller Selbstverwirklichung, jeder will up to date sein.
Da darf es nicht verwundern, dass dies auch Einzug ins Management gehalten hat. Um nur ja nicht eine Entwicklung zu verpassen, muss man bei allen dabei sein.
Die Älteren unter uns sind zu Michael Hammer gepilgert, der uns zeigte, wie man „Business Reengineering“ macht und wir fragten uns alle, warum wir nicht schon früher darauf gekommen waren. Später kam das „Time-based-Management“, das uns sagte, dass die Schnellen die Langsamen fressen, und wir wurden panisch und gingen joggen.
Heute lernen wir, dass die Welt durch Digitalisierung und „Künstliche Intelligenz“ geprägt werden wird, und das beruhigt mich wiederum sehr, denn wenn Intelligenz künstlich erzeugt werden kann, löst das vielleicht auch das ein oder andere Führungsproblem.
Ein anderes der neueren „Management-Babys“ ist „Agilität“. Dabei haben wir zu lernen, dass die erfolgreichen Unternehmen der Zukunft „agil“ sind, d.h. sie sind schlank, schnell, unkompliziert, mutig, kreativ und natürlich vor allem erfolgreich.
Man zeigt uns Unternehmen wie Spotify oder Google, die genau diese Attribute in sich tragen, und wir wünschen uns, dass unser Unternehmen auch so sein möge, denn wir erleben Unternehmensrealität als komplex, aufwändig, langsam und nicht immer erfolgreich. Und wer von uns möchte nicht auch, während er (oder sie) in der Abendsonne auf dem Surfbrett in den sanften Wellen vor der kalifornischen Küste dümpelt, sich als Teil eines kreativen Teams wissen, das den ganzen Tag (und wenn es sein muss, auch noch nachts) über innovativen Ideen brütet, die dann, von interessierten Investoren gefördert, zu „disruptiven“ Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft führen? Wäre das nicht schön?
Währenddessen müssen wir regulatorische Auflagen bearbeiten, Ergebnisberichte verfassen, Soll-Ist-Abweichungen erklären, unwillige oder unfähige Mitarbeiter motivieren, doch wenigstens einen winzigen Beitrag für den Unternehmenserfolg zu leisten, Personalvertretungen ruhig stellen, die lahmende IT auf Vordermann bringen, die Prozesse effizienter gestalten und außerdem noch Spaß an der Arbeit vermitteln.
So werden wir zu leichten Opfern von „Wunderheilern“, die uns zeigen, dass „Scrum Master“ und „Tribes“ die Lösung seien, und wir denken natürlich zuerst an „Star Wars“ und den „Millennium Falken“ und hören zu.
Selbstverständlich ist auch an diesem neuen Thema „Agilität“ nichts wirklich neu, außer natürlich den Begriffen, denn sonst würde man ja sofort erkennen, dass es sich um den sprichwörtlichen „alten Wein in neuen Schläuchen“ handelt.
Bedeutet das aber, dass man sich mit Agilität nicht befassen sollte? Ist das, was Agilität predigt, falsch?
Nein, denn alles bzw. fast alles, was unter diesem Label vermarktet wird, ist so sinnvoll wie der Aufruf, regelmäßig mehr Sport zu betreiben. Wenn die Menschen immer träger und dicker werden, weil sie sich ungesund ernähren und sich zu wenig bewegen, dann ist es richtig, sie mit allen verfügbaren Tricks dazu zu motivieren, etwas Positives für ihre Gesundheit zu tun.
Dass man dann auch versucht, über neues Modedesign, Ernährungs-Ratgeber oder -Coachings Geld zu verdienen, ist angesichts des möglichen Nutzens ein legitimes Interesse.
Mit „Agilität“ verhält es sich exakt genauso. Unternehmen neigen zu Fettleibigkeit, indem sie nicht auf sich achten, was die Kapazitäten und die Prozess-Effizienz angeht, weil sie nicht kontinuierlich nach Verbesserung und Innovation streben, weil sie sich zu wenig um die Weiterentwicklung ihrer Mitarbeiter kümmern, weil die Manager sich auf das Verwalten statt auf das „Machen und Treiben“ beschränken usw.
Damit ist klar, dass in bestimmten Abständen eine „Gesundheitskontrolle“ zu „sub-optimalen“ Ergebnissen führt. Die Herausforderung besteht ja nun vor allem darin, aus der Erkenntnis in eine Veränderung zu kommen, indem Dinge verändert werden. Und es ist im Management wie bei der Fitness: Das, was man schon kennt, weil man es schon einmal ausprobiert hat, führt nur zu geringer Veränderungsbereitschaft. Aber neue Laufschuhe oder ein neuer Laufdress, eine neue Sportübung oder eine neue Sportgruppe führen leichter zur Bereitschaft, etwas Neues anzugehen.
So geht es auch dem Manager. Anstatt wieder ein Kostensenkungs- oder ein Restrukturierungs-Programm aufzusetzen, wie schon so oft, wird jetzt auf „Agilität“ gemacht, und alle sind neugierig. Das ist legitim.
Agilität ist im Kern ein Ansatz, um Menschen dazu zu bewegen, unvoreingenommener als bisher über Abteilungs- und Funktionsgrenzen hinweg miteinander zusammen zu arbeiten. Dieses Ziel zu verfolgen, ist ebenso sinnvoll, wie den Walfang zu verbieten.
Agile Projektmethoden bspw. sollen dazu dienen, unproduktive Projektphasen zu verkürzen oder zu verhindern, indem parallel statt sequenziell gearbeitet wird. Und wenn die IT-Experten mit den Produktentwicklern gemeinsam in einem Projekt an einer Lösung arbeiten, dann ist man logischerweise effektiver, als wenn jeder nur auf seinen eigenen Schreibtisch fokussiert ist.
Wenn man allerdings in der Zahlungsverkehrsabteilung, der Kreditanalyse oder dem Compliance Office arbeitet und nach agilen Methoden sucht, könnte es schwer werden, diese zu finden bzw. umzusetzen, denn überall dort, wo das Einhalten von Prozessen und das Absichern von Risiken im Vordergrund steht, sind die Fehlertoleranzen gering.
Gerade das muss man aber in Kauf nehmen, wenn man agil agieren will, denn wo Dinge ausprobiert werden, kann auch etwas schief gehen.
Was also ist zu tun? Wenn man das Gefühl hat, die „Fettleibigkeit“ und „Trägheit“ im Unternehmen hat wieder einmal ein Ausmaß angenommen, das nicht toleriert werden kann, und wenn man diese Trägheit vor allem in Bereichen des Unternehmens lokalisiert hat, die sich mit subkritischen Prozessen wie Produktentwicklung, IT-Projekten oder Marketing befassen, dann ist „Agilität“ eine Möglichkeit, frischen Wind zu erzeugen. Ich prophezeie allerdings, dass wir auch in den kommenden 10 Jahren kein etabliertes Unternehmen oberhalb einer gewissen Größe sehen werden, das durchgängig „agil“ ist.
Hier beginnt auch das Problem, denn natürlich wird auch hier von interessierter Seite Markt gemacht. Einige Unternehmensberatungsgesellschaften setzen voll und ganz auf Agilität und nutzen ihre Kommunikationsnetzwerke, um den Managern die Dringlichkeit zu verdeutlichen, agil agieren zu müssen. Ich wette, dass genau diese Beratungsgesellschaften in, sagen wir, fünf Jahren wieder mit ganz anderen Konzepten und Modellen kommen werden. Man sollte als Manager also aufpassen, inwieweit man sich von diesen Modetrends beeinflussen lässt bzw. wie weit man sie auch gezielt nutzen möchte, um in bestimmten Bereichen des Unternehmens einen Veränderungsimpuls zu setzen. Hier hat „Agilität“ als Konzept seinen legitimen Platz.
Wenn man aber nicht verstanden hat, dass das eigentliche Problem hinter der Trägheit von Organisationen das Agieren des Managements ist, wird auch „Agilität“ nichts weiter sein als ein Strohfeuer. Man löst das Problem eines ungesunden Lebenswandels nicht durch den einmaligen Besuch eines Fitness-Studios oder den Kauf neuer Laufschuhe. Dauerhaft erfolgreiche Unternehmen sind beständig und übrigens schon sehr lange „agil“, weil sie konsequent Energie in ihre Organisation pumpen, durch Begeisterung, Ambition, aber auch durch Disziplin.
Manager, die glauben (oder sich glauben machen), jetzt gäbe es die endgültige Lösung aller Probleme und das Nirwana einer Start-up Kultur sei nahe, die glauben auch an die Existenz der Wunderpille, die aus uns allen Top-Athleten macht, ohne dass wir uns dafür anstrengen müssten.
Agilität kann einen (überschaubaren) Beitrag zur Mobilisierung einer Organisation leisten, weshalb ich auch ausdrücklich empfehlen würde, sich mit dem Konzept aktiv auseinander zu setzen.
Die Basis für dauerhaften Erfolg kann durch agile Methoden nicht gelegt werden, weil diese Methoden davon abhängen, dass sie vom Management konsequent eingefordert und auch durchgehalten werden. Es ist, wie bei vielen anderen Konzepten auch, eine Frage der Disziplin, ob man agil agiert oder nicht. Das Konzept der Agilität erfordert zwingend ein Umfeld, in dem die Rituale, die diese Methodik fordert, auch konsequent eingehalten werden.
Organisationen, in denen jedoch bereits ein hohes Maß an Disziplin existiert, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits in vielen Bereichen „agil“ agieren, weil dort in diesem Sinn geführt wird. Das ist die Crux mit diesen Konzepten: Wo man sie bräuchte, sind die Rahmenbedingungen meist nicht vorhanden, sie auch dauerhaft und diszipliniert einzusetzen. Wo die Rahmenbedingungen vorhanden sind, werden die Konzepte meist nicht gebraucht.
Man darf also nicht die Illusion haben, Konzepte dieser Art würden die Disziplin erzeugen, die zu ihrer erfolgreichen Anwendung notwendig ist. Umgekehrt verhält es sich: Wer dauerhaft agil agieren will, muss diszipliniert sein. Wenn er das aber schon ist, wird ihm „Agilität“ als Konzept wenig Zusatznutzen bringen.
Man kann sich Risse in seine Jeans schneiden und glauben, man würde dann „hip“ sein. Schauen Sie sich einmal um: Die meisten sind genau das Gegenteil davon, auch wenn kaum noch jemand eine Hose ohne Löcher trägt. „Hip“ zu sein ist eine Frage der Inhalte, nicht der Verpackung, aber das wissen Sie ja schon.
Danke an Hans-Dieter Krönung für diese treffenden Gedanken.